Rede
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18. Juni 2025

Die andere Idee

Die Rede von Carsten Brosda, Präsident des Deutschen Bühnenvereins, anlässlich der Jahrestagung des Bühnenvereins 2025 in der Kulturhauptstadt Chemnitz.

Liebes Publikum,

ich werde versuchen, was wir in der Diskussionsrunde bereits hörten, noch ein bisschen zu vertiefen und dabei noch den ein oder anderen Impuls mitzugeben für das, was unsere verbandliche Arbeit ausmacht. Zu diesem Zweck werde ich Ihnen ein paar Urlaubsbilder zeigen.

Sie sehen nun das erste Bild, das ich heute mitgebracht habe. Es zeigt das Amphitheater in Arles in Südfrankreich. Das ist zwar nicht ganz so alt, wie der Ort, auf den Nino Haratischwili gestern referenziert hat, stammt aber immerhin aus dem ersten Jahrhundert vor Christus. Es wird bis heute für die ein oder andere Veranstaltung im Sommer genutzt – das können Sie an der etwas willenlos rumstehenden Technik erkennen.  

Dieser Ort löst in mir exakt das Gefühl aus, das gestern beschrieben worden ist. Man steht an einem Ort und stellt fest, dass die Idee, menschliches Schaffen gemeinsam zu organisieren, eine uralte ist. Das ist ein Zusammenhang, der mich in meiner politischen Arbeit tangiert, aber sich auch in Ihren Institutionen wiederfindet. Das ist eine Idee, die an diesem Ort über 2.000 Jahre zurückreicht. Ich saß auf einem dieser Steinblöcke, habe hinuntergeblickt und gedacht: »Genau hier standen vor über 2.000 Jahren Leute und haben Geschichten erzählt.«

Und wir erzählen solche Geschichten heute noch. Wir tun das an anderen Orten – in unseren Breitengraden auch nicht immer unter Amphitheater-Bedingungen. Gestern Abend ging es als Open Air Veranstaltung zwar gut, das ist aber nicht immer gesichert. Einem Hamburger Kultursenator können Sie glauben, dass wir bei Open-Air-Veranstaltungen dreimal nachfragen, ob das eine gute Idee ist.  

In jedem Fall ist die Idee, für ein und vor einem Publikum Kunst entstehen zu lassen, Geschichten zu erzählen, tatsächlich eine, die alles andere als neu ist. Sie ist trotzdem und nach wie vor von einer unglaublich relevanten Dringlichkeit. Dieses Geschichtenzählen, auf das Nino Haratischwili gestern so großen Wert gelegt hat, ist etwas, von dem ich glaube, dass wir ihm ein bisschen stärker vertrauen dürfen.  

Ich weiß nicht, wer von Ihnen sich erinnert. Als ich 2020 das erste Mal im Kontext des Bühnenvereins dabei war, waren nur Wenige im Saal. Das war in Hannover in einem Hotelzimmer – zwar nicht in einem Zimmer zum Übernachten, für die damaligen Teilnehmer*innen hätte das allerdings auch gereicht. Wir waren nur knapp zwei Dutzend Leute, die in diesem Raum waren, weil wir unter Corona-Bedingungen letztlich alles remote veranstalten mussten.  

Ich habe damals den britischen Dramatiker Simon Stephens aus seiner Rede zum 175. Geburtstag des Thalia Theaters in Hamburg zitiert. Er ließ uns damals mit der Aufforderung zurück: »We need to tell our stories better!« Er bezog sich dabei auf eine gesellschaftliche Situation, in der es um die Frage geht, wie wir eigentlich die Geschichte einer Gesellschaft in der Freiheit, in der Offenheit, in der Vielfalt erzählen. Wie gelingen Geschichten, die Lust auf eine Gesellschaft machen, in der das Leben auch in Differenz stattfinden darf, in der Auseinandersetzungen, oder auch Streit selbstverständliche Bestandteile des Miteinanders sind?  

So, dass sie sich nicht zurücksehnen, nach einer Gesellschaft, in der vermeintlich alles vorformatiert, vereinfacht, schon gelöst und schon in Traditionslinien eingeordnet ist. In der alles schon erarbeitet und beantwortet worden ist, einfach, weil man die Dinge immer so beantwortet hat.  

Seit diesem Zeitpunkt vor fünf Jahren – und Stephens Satz war damals schon zwei oder drei Jahre alt – ist diese Botschaft noch eindringlicher geworden. Unsere gesellschaftlichen Formationen, in denen wir versuchen, komplexe und uneindeutige Zusammenhänge zu vermitteln und immer wieder daraufhin zu weisen, dass wir Unterschiede aushalten müssen, haben sich verschärft. Gerade Erzählungen bieten uns die Möglichkeit, Dinge, die nicht zusammenpassen, trotzdem in einen Zusammenhang zu bringen. Denn wir leben in einer Gesellschaft, in der seitdem noch mal mehr passiert ist. Damals waren wir durch Corona verunsichert. Wir haben damals diskutiert: Wie geht das eigentlich weiter? Öffnen wir die Theater wieder? Wann werden wir sie wieder öffnen? Kommt das Publikum wieder?  

Darauf haben wir nun einige Antworten. Aber auf die Rückkehr des Krieges, auf die wirtschaftlichen Verwerfung, auf die Energiekrise, auf die grassierende und galoppierende Klimakatastrophe, darauf, wie wir die Lebensbedingungen auf diesem Planeten erhalten? Wie schaffen wir eine Gesellschaft, die in der Lage ist, vielfältig miteinander zu arbeiten und zu leben? Und zwar, so dass alle ohne Angst verschieden sein können? Darauf haben wir jetzt zunehmend verunsicherte, zunehmend verspannte und bisweilen aggressive Reaktionen in unserer Gesellschaft. Und die Fragen, wie das überhaupt noch weiter geht und ob wir überhaupt noch die Vorstellung davon haben, dass es besser werden könnte, werden faszinierenderweise kaum noch mit »Ja!« beantwortet.  

Eigentlich gibt es einen Wettbewerb darüber, sich zu erklären, auf welche Art es denn nun zu Ende gehen wird. Politik scheint mittlerweile ein Wettbewerb darum zu sein, die coolste Formulierung zur Beschreibung dieses Untergangs zu finden. Wer das besonders gut macht, der reüssiert in der öffentlichen Arena. Das reicht vollständig aus, um eine mediale und politische Karriere zu begründen. Wer glaubt, dass man auf diesem Weg Demokratie rettet, dürfte sich geschnitten haben.  

Unser neuer Kulturstaatsminister hat gestern in der Süddeutschen Zeitung in einem, um es wertfrei zu sagen, lesenswerten Text gesagt, »wir leben in einem gesellschaftlichen Klima, dessen Taktung von linkem Alarmismus vorangetrieben« werde. Am Tegernsee scheint es anders zu sein als in dem Land, in dem ich mich bewege. Linker Alarmismus ist aus meiner Sicht nicht die Taktung dieser Gesellschaft. Die Taktung dieser Gesellschaft ist aus meiner Sicht momentan gar nicht so sehr von einer Auseinandersetzung zwischen »rechts« und »links« bestimmt. Es geht vielmehr darum, dass partielle, einzelne Milieus unserer Gesellschaft auseinanderdriften und nicht mehr zueinander finden in ihrer Rezeption dessen, was in diesem Land los ist.  

Das finde ich viel wichtiger und viel relevanter als die Frage: »Wollen wir jetzt keine Büste einer nackten Frau mehr auf einem Behördengang haben?« Das war für ihn der Ausgangspunkt der Beurteilung der Gefährdung der Kunstfreiheit. Oder ist es aber nicht vielmehr die Frage, ob die anderen nur noch Zuwendungsbescheide und damit eine öffentliche Förderung vergeben, wenn man die regionale Identität und das Heimatgefühl in einem Theaterprogramm wiederfindet, wie man es in einigen AfD-Wahlprogrammen in den letzten Jahren immer wieder liest. Zwischen diesen Polen geht es auseinander. Ich sehe zwischen beiden einen qualitativen Unterschied. Aber auch darüber kann man gerne miteinander streiten.  

Was aber sicherlich richtig ist, ist, dass die Frage, was Sinn in unserer Gesellschaft erzeugt, eine relevante ist. Über sie müssen wir immer wieder diskutieren und die Künste brauchen eine unbedingte Freiheit. Sie können nicht in den Dienst genommen werden, um eine bestimmte Geschichte zu erzählen, die vermeintlich eine hegemoniale Position stärken soll. Die Frage, welche Schlussfolgerung wir dann praktisch in der Kulturpolitik daraus ziehen, wenn es darum geht, diese Freiheit zu gewährleisten, zu schützen, zu sichern, zu stärken und auch weiterhin zu gewährleisten in unserer Gesellschaft – diese Frage werden wir noch heftig miteinander zu diskutieren haben. Aber wir erleben im Moment eine gesellschaftliche Situation, in der eine allgemeine Unzufriedenheit und ein Fragen danach herrscht: »Wie kann es eigentlich weitergehen?« Wir erleben einen Wettbewerb um die Beschreibungen der Schwierigkeiten, die wir miteinander vorliegen haben und eine profunde Unsicherheit darüber, ob eigentlich noch etwas Besseres und etwas Anderes denkbar ist.  

Ich bin gestern Abend schon aufgeklärt worden, dass ein Zitat, das ich verwendet habe, inkorrekt war. Auch das gehört zur Tradition und ist bereits letztes Jahr passiert. So ist das, wenn man aus dem Kopf heraus arbeitet. Ich müsste also korrekterweise sagen: Ich habe gestern aus dem Film »Ben Hur« zitiert, wie Gundula Reinig mich aufmerksam machte. Faktisch war es ein Dialog zwischen Messala und Sixtus, während Ben Hur auf dem Weg zur Galeere war: »Du fragst also, wie man eine Idee bekämpfen kann? Mit einer anderen Idee.«, sagt Messala da zu Sixtus.  

Die Verwirrung des Zitats ändert nichts an der Grundidee des Ganzen: Was ist denn die andere Idee? Das ist ein relevanter Punkt. Wir sind momentan in einer gesellschaftlichen Situation, in der mal ganz grob zusammengefasst, alle diffus unzufrieden sind. In der alle irgendwie etwas anderes wollen.  

Und dann kommen einige und sagen: »Wir haben eine Alternative zu diesem Status Quo«. Diese »Alternative« nennt sich auch so und führt zurück in die fünfziger oder dreißiger Jahre. Je nachdem, wie radikal man diese Alternative ausformuliert. Und dann sagen diejenigen, die die Idee einer offenen, einer demokratischen, einer vielfältigen Gesellschaft schon ganz okay finden: »Das ist falsch, was ihr da vorhabt.« Analytisch ist das völlig richtig. Wenn wir dabei aber stehen bleiben, nur zu sagen: »Das ist falsch, gefährdet nicht die Demokratie!«, haben wir noch keine Alternative zu dem Zustand, der momentan alle unzufrieden macht, formuliert.  

Ich glaube, dass in einer solchen anderen Idee tatsächlich eine Stärke liegen kann, die etwas damit zu tun hat, dass Räume wie dieser Ort in Arles seit über 2.000 Jahren für uns immer noch relevant sind. Weil insbesondere Theater, aber auch alle anderen Kulturinstitutionen, Orte sind, an denen wir das, was denn noch sein könnte, spielerisch ausprobieren können. Und so können wir die verwegene Idee erzeugen, dass etwas anderes als das, was wir momentan leben, durchaus denkbar ist. Dass der Glaube an etwas Besseres, an etwas anderes, was nichts Schlechteres sein muss, Lust auf die Zukunft erzeugen kann. Dass das in solchen Orten wie dem, in dem wir hier sind und wie in denen, die Sie verantworten, jederzeit möglich ist. Orte, wie wir sie da auf dem Bild sehen.  

Wir müssen uns nur auf dieses Wagnis einlassen, solche Dinge zu formulieren, weil sie natürlich auch scheitern können, weil natürlich die Vorstellung nicht zwingend bedeutet, dass das auch in die Tat und auch in die gesellschaftliche Wirklichkeit umgesetzt werden kann.  

Welche Kraft in solch einer Bereitschaft zu menschlicher Kreativität steckt, kann man sich an dem zweiten Urlaubsbild, das ich mitgebracht habe, genauer angucken. Das ist das Palais Idéal du Facteur Cheval. Der eine oder andere kennt ihn vielleicht. Jonas Lüscher hat ihn gerade in diesem Jahr in einem sehr lesenswerten Buch umfangreich beschrieben. Das ist ein Palast, den ein Landbriefträger in der Region Drôme Provençale in Südfrankreich zwischen 1879 und 1912 selbst und allein gebaut hat. Wenn Sie davorstehen, ist das so eine krude Mischung aus der Sagrada Familia und Angkor Wat. Er ist entstanden, weil der Landbriefträger, der ursprünglich Bäcker gelernt hatte, auf einer Tour 1879 über einen Stein gestolpert ist, den er in seiner Form spannend fand. Den er eingesteckt hat. Er hat jeden Tag eine 30 Kilometer lange Tour gemacht, durch die kleineren und entlegenen Dörfer in der Gegend. Hauterives ist der Ort, an dem das entstanden ist. Er hat dann angefangen, diesen Palast zu bauen, inspiriert von den Fotos auf den Postkarten, die er ausgetragen hat. Wenn Sie davorstehen, finden Sie Annäherung ans Weiße Haus, sie finden indische Tempel, sie finden Vercingetorix und Cäsar. Sie finden einen unfassbaren Formenreichtum, den ein Mann über 30 Jahre dort gebaut hat. Seine Tochter ist ein paar Jahre nachdem er den ersten Stein gefunden hatte, gestorben und das Bauen wurde für ihn zu einer Form von Besessenheit: Ich will irgendetwas schaffen, was dauerhaft an sie erinnert.  

Später wollte er sich dort mit seiner Frau begraben lassen. Das hat die Gemeinde nicht zugelassen – auch in Südfrankreich gibt es ordentliche Gemeindeordnungen, die Dinge verbieten. Dann hat er sich noch einmal zehn Jahre auf den Friedhof zurückgezogen und dort noch eine kleine Version des Ganzen gebaut. Es steht dort heute als Grabmal.  

Ein völlig wahnwitziges Moment. André Breton hat darüber Gedichte geschrieben. Max Ernst hat's gemalt. Picasso war schockverliebt, als er davorstand. Gleichzeitig ist es aber ein Werk, das ein Mensch geschaffen hat, der alles war, aber sicherlich kein Künstler. Und wenn Sie davorstehen, können Sie auch locker sagen, das ist alles vollständiger Kitsch. Und ja, da ist auch eine Menge Kitsch dabei. Aber erst mal ist man wirklich vom Donner gerührt darüber, was möglich ist, wenn Menschen sagen: »Ich will mich ausdrücken!« Das Ding ist ungefähr 26 Meter lang, 12 Meter hoch und 14 Meter breit. Ein unfassbares Gebäude, dass einer allein erbaut hat. Man kann dort reingehen, es gibt einen ersten Stock, man kann über Arkadengänge gehen. Aber dieser Wille und dieser Wunsch, etwas zu schaffen und etwas zu hinterlassen, ist offensichtlich etwas, was sehr tief in uns Menschen steckt. Und ich finde, nirgendwo findet dieser Wunsch eine reinere Ausdrucksform als in der Kunst.  

Dieser Kraft inhärent in einer Gesellschaft zu vertrauen, die sich selbst gar nicht mehr zutraut, dass sie diese Kraft hat, ist etwas Relevantes. Deswegen ist dieser Palais Idéal für mich ein Stück weit auch idealtypisch. Er ist eine Begründung, warum es für eine Gesellschaft sinnvoll und notwendig ist, in Kunst zu investieren. Weil wir damit die Räume schaffen, in denen es möglich ist, genau dieser Kreativität einen Ausdruck zu verleihen. Weil wir nicht nur zu sagen, das passiert jetzt zufällig, weil ein Landbriefträger einen manischen Schub hat, der 30 Jahren nicht nachlässt, sondern weil wir als Gesellschaft insgesamt Strukturen dafür schaffen, dass diese Kreativität sich tatsächlich in etwas übersetzt, das gesellschaftlich rezipiert werden kann.  

Das hat viel damit zu tun, warum wir Institutionen wie Theater auch und gerade heute weiterhin gewährleisten müssen. Warum es sinnvoll und notwendig ist, darauf zu beharren, dass wir Menschen so etwas können. Und dass wir eben nicht nur Krieg und Krise können, sondern dass wir tatsächlich auch etwas schaffen können, in dem Willen: »Das soll erhalten bleiben. Das soll an mich erinnern.« Der Landpostbote hat sogar ein Mahnmal für seine Schubkarre in seinem Werk gebaut. Die Schubkarre, mit der er die Steine auf seinen Touren transportiert hat. Sie hat er in sein Werk integriert, weil sie für ihn der engste Weggefährte beim Schaffen war. An sie sollte für ihn erinnert werden und sie steht da heute immer noch.  

Das ist ein wirklich unfassbarer Moment. Jonas Lüscher stellt seinem Buch ein Zitat voran. In diesem schreiben Gilles Deleuze und Felix Guattari:  

»Unablässig stellen die Menschen einen Schirm her, der ihnen Schutz bietet, auf dessen Unterseite sie ein Firmament zeichnen und ihre Konventionen und Meinungen schreiben; der Dichter, der Künstler aber macht einen Schlitz in diesen Schirm.«

Das ist für mich die wissenschaftliche Übersetzung eines Zitats, das ich immer wieder verwendet habe. Wenn Leonard Cohen in Anthem singt: »There's a crack in everything, that's how the light gets in.« In allem gibt es Risse und dadurch kommt das Licht hinein.  

Ich glaube, die Kunst ist dieser Riss in einer Gesellschaft, die uns zunehmend düster erscheint. Das heißt nicht, dass die Künste die Aufgabe haben, nur Fröhlichkeit, Sonnenschein und Zuversicht zu verbreiten. Aber sie zerreißen eine vermeintlich formierte Wahrnehmung einer Situation, wie sie zu sein habe, wie sie ist und wie sie unabdingbar bleiben möge. Diese Kraft, die gilt es zu stärken, wenn wir über die Freiheit der Kunst reden. Das ist die Kraft, um die wir uns kümmern müssen. Das ist der Grund, warum wir kulturpolitisch Verantwortung dafür tragen, warum wir auch als Verband Verantwortung dafür tragen, dass diese kulturpolitischen Rahmenbedingungen so bleiben, dass die Künste tatsächlich in der Lage sind, diese Kraft in eine Gesellschaft hineinzutragen.  

Das tun sie auf ganz vielfältige Arten und Weisen. Wir erleben das momentan und haben sie auch gestern Abend kurz gestriffen, anhand von Nino Haratischwilis Aufforderung an uns alle, uns zusammenzuschließen, um die Demokratie zu verteidigen.  

Und in diesem Kontext passiert gerade Bemerkenswertes, wenn man mal in die globalen Zusammenhänge geht. Wir haben seit dem 14. Mai eine öffentlich ausgetragene Fehde zwischen einem Künstler und dem US-Präsidenten. Am 14. Mai hat Bruce Springsteen seine Europatournee in Manchester eröffnet – mit einer Philippika gegen die US-Regierung. Und letztlich nicht nur mit einer, sondern drei bis vier. Und der bemerkenswerteste Satz in dieser Philippika war: »The America I‘ve written about for fifty years is real.«

Springsteen hat als Künstler darauf beharrt, dass seine Vorstellung eines Amerika, in dem die Freiheit des Einzelnen, das Sich-Ausleben, das vielfältige Miteinander, in dem man immer wieder streitig aushandelt, wie man eigentlich miteinander leben will, eine reale Option für dieses Land ist. Er hat einen Wahrheitsanspruch der Kunst gegenüber der Propaganda einer Regierung behauptet, gegenüber einer Regierung, von der wir bis vor wenigen Jahren gedacht hätten, das ist unser »Beacon of Freedom, of Liberty, of Democracy« wie es immer so schön hieß. Ein Land, auf das wir geblickt und gesagt haben: »So soll Demokratie funktionieren»« Von dem wir jetzt feststellen, dass man sehr schnell sehr viele Errungenschaften freier Gesellschaften zurückbauen kann.  

Weil sich diese Freiheiten am Ende des Tages nicht allein durch Gesetze sichern lassen. Sondern immer nur dadurch, dass Menschen sich miteinander entscheiden, diese Freiheiten auch zu leben. Und das ist wiederum etwas, bei dem die Künste maßgeblich mit ins Spiel kommen, weil sie darauf beharren können, dass diese kulturelle Grundierung von Freiheitsrechten möglich ist. Dass es möglich ist, sich darüber zu verständigen, dass wir das miteinander hinbekommen können. Diese Aushandlungen passieren tatsächlich in kulturellen Räumen, das ist in die Produktionsweisen, in die Stoffe, in die Ästhetiken eingeschrieben.  

Es geht nicht darum, sich als Künstler, den eigenen Fame, die eigene regionale oder globale Berühmtheit ausnutzend, auf eine Bühne zu stellen und vom Bühnenrand zu predigen: »Jetzt lebt mal Demokratie«. Sondern um die Art und Weise: Welche Stoffe entstehen aus den Themen, die hier verhandelt werden, aus den Ästhetiken, die ihnen eingeschrieben werden. Aus dem ästhetischen Eigensinn heraus den unmittelbaren Bezug herzustellen, dass es natürlich etwas mit demokratischen Prozessen und demokratischen Ideen zu tun hat.  

Es geht um die immanente Verbindung, die das Predigen gar nicht braucht. Um das Bewusstsein des Umstandes, dass wir in der Lage sind, in Freiheit Dinge zu schaffen und dass wir das können, wenn wir gemeinsam und in Gemeinschaft miteinander kreieren.  

Das gelingt nur dann, wenn diese Gemeinschaft nicht auf der Bühne endet, sondern tatsächlich diejenigen, die im Zuschauerraum sitzen, mit hineingeholt werden in diese Erfahrung. Das ist eine Dimension, die gesellschaftlich momentan unterbelichtet ist. Hierauf müssen wir, glaube ich, als Kulturverantwortliche in den verschiedenen Rollen, die wir miteinander prägen - sei es in der Kulturverwaltung in der Kulturpolitik in den Kulturinstitutionen - viel stärker beharren.  

Nils Minkmar hat in seinem, wie ich finde, jede Woche sehr lesenswerten Newsletter geschrieben, momentan würden Bürgerinnen und Bürger von der Politik behandelt wie Girokonten auf zwei Beinen. Was er damit meinte war, dass sich im Prinzip die gesamte politische Kommunikation momentan darum dreht: »Wie entlasten wir euch und wie sorgen wir dafür, dass es wirtschaftlich besser wird, damit ihr wiederum mehr Geld habt. Dann versprechen wir noch ein bisschen, wir rüsten auf und wir sanieren die Brücken und dann wird alles gut. Dann ist Deutschland wieder toll. Dann wächst Zuversicht.«

Ich halte das für eine dramatische Unterforderung unserer Gesellschaft und auch ein dramatisches Vorbeigehen, an den tatsächlich unser Land bewegenden Fragestellungen. Denn im Kern geht es doch darum: Was ist eigentlich der Sinn in einer Gesellschaft, sich den Schmerz anzutun, in Vielfalt anstrengend miteinander zu leben? Warum ist das besser als die Alternative, die momentan vorgeschlagen wird?  

Das ist aber eine Frage, die ich nicht übers Girokonto beantworte. Das ist eine Frage, die ich nicht über eine funktionierende Brücke beantworte – wobei diese Frage natürlich wichtig ist. Ich will die Notwendigkeit dieser Fragen nicht in Zweifel ziehen. Ich will nur sagen, dass sie nicht ausreichen, um die großen und größeren gesellschaftlichen Probleme, die wir haben, zu lösen.  

An dieser Stelle würde ich mir wünschen, dass aus den Kunstinstitutionen heraus und auch aus der Kulturpolitik mehr Mut existiert, zu sagen: »Da können wir helfen!« Weil das genau die Fragen sind, die wir verhandeln, weil wir genau die Räume bieten können, in denen wir als Gesellschaft solche Vorstellungen entwickeln können und weil wir genau die Kraft haben, vor der ja berechtigterweise auch einige Angst haben in unserer Gesellschaft. Weil sie genau wissen, dass, wenn das, was wir tun, wirkt, wenn es Erfolg in Nino Haratischwilis Sinn hat, dann verändert sich etwas in der Gesellschaft. Nicht geplant, nicht strategisch, aber faktisch.  

In diese Kraft zu vertrauen und diese Kraft tatsächlich stark ins gesellschaftliche Miteinander zu bringen, halte ich für eine Aufgabe, der wir uns als Verband in den kommenden Jahren noch stärker werden widmen müssen. Nicht allein, sondern gemeinsam mit allen anderen, die auf dem Platz sind. Weil ich prophezeie, wenn wir es nicht tun, tut es keiner. Weil es immerhin bequemer ist, das Ganze nur so vermeintlich managerial-zweckrational durchzustrukturieren und sich zu sagen: »Mit diesen Nebenwidersprüchen der Kunst und ihren komischen Sinnfragen befassen wir uns mal nicht. Das stört ja nur.«

Natürlich stört das. Deswegen ist es ja auch ein Riss im Firmament, wie Deleuze und Guattari schreiben. Aber dieser Riss ist notwendig, damit es besser wird, damit wir sehen können, was noch gehen könnte, wenn wir durch diesen Riss hindurch gucken. Insofern braucht es aus meiner Sicht viel mehr dieser Risse. Und viel mehr Intervention in dieses formierte Dasein unserer Gesellschaft, als wir das momentan erleben. Und wir können, wenn wir uns die Freiheit und den Mut nehmen, zu dieser Intervention auch einen Beitrag leisten. Und wenn wir das tun, bin ich mir ziemlich sicher, werden viele Menschen sich aufregen. Aber Aufregung zeigt, dass der Patient lebt. Insofern sollten wir diese Aufregung erzeugen.  

Wenn wir das nicht tun? Damit komme ich zum dritten Bild. Das ist jetzt der dystopische Teil. Der ein oder andere erkennt einen Supermarkt, es ist auch einer. Das ist allerdings das Despar Teatro Italia in Venedig, das bis 2005 ein Theater war und jetzt ein Spar-Supermarkt ist. Es wurde saniert, damit dort der Supermarkt reingehen kann – im Jahr 2005. Man steht da drin und sieht noch den Bühnenbogen an der einen Stelle, man sieht die Ausmalung.  

Es wurde 1915 erbaut, von dem gleichen Architekten, der auch die Fassade des Hotels Excelsior am Lido gebaut hat. Ein durchaus bekannter, renommierter, fast über 100 Jahre genutzter Theaterort. Zwischenzeitig war es auch mal ein Kino, aber überwiegend ein Theater – für das man irgendwann keine Verwendung mehr hatte. Es zeigt ein bisschen, was verloren gehen kann, wenn man nicht aufpasst. Was verloren gehen kann, wenn man sich nicht darum kümmert, dass diese Strukturen erhalten bleiben.  

Ich stand dort im letzten Herbst, als wir mit der Familie in Venedig waren. Unsere Vermieterin sagte: »Das müsst ihr euch angucken! Das ist ein ganz toller Supermarkt, der war früher ein Theater, total schön.« Da hatte ich schon so ein Gefühl des Schockgefrierens. Als ich ihr erklärte, was ich beruflich mache, verstand sie, dass es für mich ein eher mäßig fröhlich machender Touristentipp war. Aber natürlich sind wir hingegangen. Und dann stehst du da drinnen und denkst so: »Ja Mensch, es gibt nichts Gesichertes.«

Wenn wir nicht aufpassen, können Dinge auch wieder verschwinden. Und selbst, wenn etwas 2.000 Jahre als Idee da ist, heißt das nicht, dass die einzelnen Institutionen, die diese Idee heute ausprägen, auch tatsächlich die nächsten 2.000 Jahre da sein werden. Dafür muss sich eine Gesellschaft immer wieder neu entscheiden. Und dafür müssen wir auch immer bereitwillig sagen: »Wir wollen das, was dort passiert. Wir wollen diese Orte. Wir wollen die Investitionen in diese Orte und als Gesellschaft wir wollen das, was an diesen Orten produziert wird.« Und diejenigen, die diese Orte mit Kunst füllen, müssen mit allem Selbstbewusstsein sagen: »Das, was wir hier tun, hat Sinn.«

Ich glaube, auch das ist etwas, was man in solchen Momenten erleben kann und das wird momentan nicht einfacher. Ich habe die gesellschaftliche Situation bereits angesprochen, die daraus folgenden Angriffe auf die Legitimation von Kunst, diese Fragen, wie: »Bildet ihr überhaupt das ab, was die Gesellschaft eigentlich will, eure komischen Sachen mit Diversität und mit Inklusion? Ist das wirklich, worum es geht? Wollen die Leute nicht einfach nur einen schönen Abend mit einem klassischen Stoff verbringen? Macht doch etwas fürs Herz und fürs Gemüt, möglichst politisch unangreifbar. Dann können wir eure Freiheit auch gut sichern, wenn ihr in diesem schönen Kordon bleibt und nicht dahin geht, wo es anstrengend wird!« Was man dann so alles hört. Auf diesen Druck darf man sich nicht einlassen.  

Das wird aber natürlich schwierig in einer Situation, in der wir als Verband auch damit konfrontiert sind, dass das die Realität vieler Häuser ist. In der die öffentliche Hand ein reales Problem hinsichtlich der Frage hat: »Wie finanzieren wir die Rahmenbedingungen dauerhaft infrastrukturell und institutionell für die Häuser.« Auch das erleben viele gerade, dass regelmäßig eine Situation auftaucht, in der die Kulturverwaltung sagt: »Der Kämmerer hat gesagt, nächstes Jahr ist nicht mehr so viel Geld da. Wir müssen mit weniger Geld klarkommen.« 

Daraus resultiert die Frage, wie man mit dem Anpassungs- und Transformationsdruck umgeht. Die Frage, wie man damit umgeht, dass solche Entscheidungen die Folge einer Relevanzzuschreibung innerhalb des gesellschaftlichen und politischen Raums sind, bei der Frage, wo kann ich denn wie viel wegnehmen. Daran schließt sich die Unterstellung an, wie wichtig etwas ist oder wie viele Verbündete etwas hat. Wie viel Geräusch macht es denn, wenn ich da oder dort handle und etwas wegnehme? Das sind die profanen politischen Fragen, die sich dann immer schnell ergeben.  

Es ist sehr wichtig, sich als Verband sehr genau anzusehen, wie wir uns in einer solchen Situation bewegen. Und zwar auf vielerlei Ebenen. Wie wir uns Verbündete im politischen und im Verwaltungsraum holen. Bei denjenigen, die für Kulturpolitik zuständig sind. Indem wir sie auch stark machen, in die politischen Auseinandersetzungen zu gehen, darüber, wo eigentlich wie gearbeitet werden kann.  

Aber zweitens müssen wir uns natürlich auch Gedanken darüber machen: Wie gehen wir mit dem Transformationsdruck, der zwangsläufig entstehen wird, in einer Zeit knapper Kasse um. So, dass wir es vielleicht sogar schaffen, die Institutionen durch diese Phase hindurchzubringen und dann ein bisschen hinauszukommen aus diesem unterstellten Alternativszenario, in dem entweder alles bleibt wie es ist oder alles am Ende ist.  

Dass das nicht stimmt, wissen alle hier im Raum. In der Politik hat sich das aber noch nicht bei allen vermittelt. Ebenso hat es sich nicht in der Beziehung zwischen Theatern, Orchestern und Politik vermittelt, dass es da vielleicht noch diverse Optionen gibt, mit denen man – sofern man eine Vertrauensbasis hat – miteinander wird umgehen müssen.  

Was noch hinzukommt, ist eine Fragestellung, mit der wir uns gestern auch schon intensiv im Verwaltungsrat und auch im Verband lange beschäftigt haben. Sie wird sicherlich heute Nachmittag noch auf der Jahreshauptversammlung Thema werden: Dass wir uns als Theater- und Orchesterbetriebe in einer Arbeitsmarktsituation bewegen, in der sich die Anforderungen an Arbeit deutlich verändern. Die Arbeitsmarktsoziologen sagen uns relativ klar, wir stehen vor einer Phase, in der wir einen Arbeitnehmermarkt haben werden. Was meinen sie damit? Sie meinen damit, dass meine Töchter beispielsweise, die jetzt 16 und 18 werden in diesem Jahr, eine Super-Zeit haben werden. Weil sie sich im Prinzip aussuchen können, wo sie arbeiten. Weil Arbeitgeber um Arbeitnehmer buhlen müssen.

Dann kommen diese ganzen Fragen, die wir alle aus den Häusern kennen: Was heißt das denn für die Planbarkeit von Arbeit? Was heißt das für die Arbeitsbedingungen? Wie müssen wir das so gestalten, dass man sich das auch vorstellen kann? Das ist sicherlich in einem Nine-to-Five-Bürobetrieb leichter zu organisieren als in einem Haus, das jeden Abend darauf getrimmt ist, dass zu einem bestimmten Zeitpunkt ein Vorhang aufgeht – weil Leute im Saal sitzen, die etwas sehen wollen. Das ist ein anderer Druck.  

Aber die Frage, wie wir damit umgehen, und die Frage, wie wir dafür sorgen, dass diese Ansprüche von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern im Einklang mit den betrieblichen Erfordernissen von Theatern und Orchestern gelöst werden können, ist eine Aufgabe, die wir als Verband zu leisten haben. Ich bin immer noch der Meinung und der festen Überzeugung, dass wir das mit Flächentarifvertragsstrukturen besser hinbekommen, als wenn jedes Haus sich einzeln in die Konkurrenz begibt. Weil wir damit erstens ein paar Rahmenbedingungen für den gesamten Markt normieren, weil wir zweitens interessante Auswüchse von Forderungen, die auf gewerkschaftlicher Seite formuliert werden, wegverhandelt bekommen, die man vielleicht allein nicht wegverhandelt bekommt. Und weil man drittens gegenüber dem Träger auch verobjektivieren kann, warum es bestimmte wirtschaftliche und institutionelle Förderkulissen braucht, damit man weiterarbeiten kann.  

So kann man eben auch zeigen, dass bestimmte tarifvertragliche Vereinbarungen Folgen haben, die wiederum auch der Träger kennen muss, wenn er das Haus weiter in Schuss halten will. Hier bin ich in der Hausvertragsstruktur, wenn sie flächendeckend wäre, auf der freien Wiese – und das geht mal gut und mal weniger gut aus.  

Insofern sind ein Flächentarifvertrag und ein starker Arbeitgeberverband etwas, woran sich einzelne Häuser auch hängen können und an dem sie ihre eigene Position in den Verhandlungen wiederum schärfen können, um es in betriebliche Konkretionen zu übersetzen. Ich will weiter sehr dafür werben.  

Ich weiß, dass die jüngsten Tarifabschlüsse nicht zwingend und bei allen im Saal zu Freudensprüngen führen. Aber wenn wir einmal durchdenken, was die Alternative wäre, kommt man rational zu dem Schluss: „Besser wäre die Alternative nicht.“ Das ist der entscheidende Punkt. Am Ende bin ich mir sicher, dass die Gewerkschaften feststellen werden, dass das ein oder andere, was da verhandelt wurde, für sie nicht aufgeht. Auch hier gilt die alte Fußballerweisheit: Nach dem Tarifvertrag ist vor dem Tarifvertrag. Insofern bin ich mir sehr sicher, das wird weitergehen, es ist nicht der Weisheit letzter Schluss, aber es ist ein Zwischenschritt, um dafür zu sorgen, dass Theater- und Orchesterbetriebe in einem sich verändernden Arbeitsmarkt Arbeitgeber bleiben, mit denen wir Menschen plausibel machen können, dass es sinnvoll ist, bei uns zu anzufangen: Weil wir darüber hinaus etwas anderes bieten können, nämlich das Arbeiten an diesem gesellschaftlichen, an diesem menschlichen Sinn, über den wir miteinander so viel sprechen.

Ich kann nur alle einladen mitzumachen dabei, das zu organisieren. Wir sind dann stark, wenn alle Positionen dieses Verbandes auch in den Gremien dieses Verbandes vertreten sind. Anstatt sich zurückzulehnen und zu sagen: „Sollen die mal verhandeln. Ich sag denen dann hinterher, wie ich das Ergebnis finde.“ Verstehen Sie das als sanfte Ermunterung sich einzubringen, weil wir durch Teilhabe und durch innerverbandliche Demokratie besser werden – und das im Idealfall vor den Entscheidungen und nicht danach. Dann haben wir nämlich nicht mehr so viel Bewegungsspielraum, sondern schwächen nur noch unsere künftige Verhandlungsposition.  

Insofern ist es klug, sich zu überlegen: Wie kommen wir miteinander klar. Und wie kriegen wir das miteinander hin – auch wissend, dass die paradoxe Situation entsteht, dass das eine oder andere große Haus, das vielleicht seit langem mit keinem so großen ökonomischen Transformationsdruck konfrontiert war, eine ganze Menge von den kleineren Häusern oder den privaten Häusern lernen kann. Denn letztere sind schon seit mehreren Jahrzehnten durch jede Schleife und jede Welle dieser Transformationsprozesse gegangen und haben in diesem Sinne schon »alle Ecken ausgefegt«, wie meine Oma das genannt hätte.  

Es ist ein dauerhafter Druck darauf, Theater immer wieder neu zu denken. Zu überlegen: »Wie kriege ich das jetzt hin? Wie kriege ich das in den veränderten Rahmenbedingungen hin?« Ich glaube, es bleibt nichts anderes übrig, als uns dieser Fragestellung immer wieder neu zu nähern.

Meine Hamburger Lieblingsband Fink hat mal in einem Song gesungen: »Die Richtung kommt von vorn entgegen« Und in dem Song heißt es weiter:  

»Du kannst dich umdrehen und wegsehen, du kannst aufstehen und weggehen. Du kannst dich hinlegen und dich totstellen, bis sie kommen und dich auszählen.«

Der Song endet mit der Zeile: „Du kannst den ganzen Weg nach vorn gehen.“ Vor dieser Frage stehen wir als Häuser und als Verband. Man kann versuchen, eine Zeit lang zu hoffen: »Ach, das zieht an mir vorbei.« Oder man sagt von vorherein: »Ich warte nicht darauf, dass andere anfangen mich zu transformieren. Ich mach das selbst.« Die Frage ist nicht, ob der Wandel kommt. Die Frage ist, wer den Wandel gestaltet.  

Ich bin ich sehr dafür, dass wir diesen Wandel gestalten. Denn wer, wenn nicht die Menschen, die hier im Raum sind, soll wissen, wie man ein Theater gut, kraftvoll und nachhaltig, sicher und künstlerisch stark aufstellt. Wer, wenn nicht die Menschen, die hier im Raum sind, weiß, was es braucht an Ressourcen, um den Transformationsprozess zu machen. Was es an Unterstützung braucht, um weiter sauber arbeiten zu können und auch an Veränderungsmut und Veränderungskraft, damit diese Theater auch die nächsten 2.000 Jahre gut und sicher arbeiten können. Und wer, wenn nicht die Vielen hier im Raum, die schon in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder Wege gefunden haben, wie es weitergehen kann, weiß auch jetzt, welche Wege es geben kann, um weiterzumachen.  

Insofern hoffe ich sehr, dass wir es miteinander schaffen, diese Wege zu beschreiben und zu gehen. Dass wir gemeinsam dafür sorgen, dass die Kraft und das Know-how, die in diesem Verband stecken, auch auf die Straße kommen, wenn es darum geht, sicherzustellen, dass in den kommenden Jahren und Jahrzehnten Kulturinstitutionen erhalten bleiben.  

Die Kulturinfarkt-Diskussion wird uns wieder begegnen. Die Diskussion: »Wir haben doch zu viel, das brauchen wir doch alles nicht, die Hälfte reicht doch auch!« Aus meiner Sicht haben wir zu wenig Kunstausgaben in diesem Land. Aus meiner Sicht haben wir zu wenig Kulturinstitutionen in diesem Land. Wir haben nicht zu viel. Wir haben zu wenig. Wir haben uns nur daran gewöhnt, dass Politik es durchgehen lässt, so zu tun, als ob es gleichgültig ist, wie viel es davon braucht und dass das etwas ist, was man freiwillig machen kann, wenn alles andere irgendwie schon erledigt ist.  

An dieser Hierarchisierung zu arbeiten und dabei auch zu zeigen, dass wir bereit sind, uns zu verändern, damit wir genau in dieser Hierarchisierung weiter nach oben kommen und unsere künstlerische Relevanz und unsere gesellschaftliche Relevanz stärken – das ist die Aufgabe, vor der wir miteinander stehen. Damit das auf dem Bild nur in Venedig passiert, aber nirgendwo sonst. Damit wir erleben können, wie industrielle Strukturen sich wie hier in Chemnitz in Kulturorte verwandeln – das ist nämlich ehrlicherweise die viel schönere Geschichte. Wenn man sieht, dass Infrastrukturen, wir hier der Spinnenbau, sich tatsächlich in Orte der Kultur verwandeln könnten und dass wir sie von innen heraus mit Sinn füllen können.  

Ich komme zum vierten und letzten Urlaubsbild. Leuchttürme machen Menschen Hoffnung – man hofft, dass man an den Untiefen vorbei und sicher in den Hafen kommt. Das also ist das Leuchtfeuer von Rubjerg Knude im Nordwesten Dänemarks. 1899 in einer nicht ganz nachhaltigen Entscheidung auf einer Wanderdüne errichtet, direkt an der Nordwestspitze. Wo es sehr windig ist und wo der Sand immer von Westen nach Osten geblasen wird. Er ist deswegen 1970 aufgegeben worden und ein neuer Leuchtturm wurde im Landesinneren mit viel technischerer Struktur gebaut. Da ist das Leuchtfeuer dann hingezogen worden. Aber dieser Leuchtturm auf dem Bild steht da immer noch. Und er steht da vor allen Dingen immer noch, weil 2019, als er direkt an der Abbruchkante war, entschieden wurde, ihn auf Schienen zu setzen und 70 Meter ins Landesinnere zu ziehen – für fünf Millionen Dänische Kronen. Damit er jetzt 70 Meter weiter im Landesinneren steht, bis in 30 Jahren, so die derzeitige Prognose, die Abbruchkante wieder direkt am Leuchtturm ist.  

Fünf Millionen Kronen dafür, dass man 30 Jahre einen Leuchtturm dort stehen hat, der keine Funktion mehr hat. Das ist nicht so weit von den Anforderungen weg, die wir manchmal an Kulturpolitik stellen. Und es zeigt, dass es gehen kann, Dinge zu tun, die ökonomisch unsinnig sind, die aber eine Gesellschaft für wichtig erachtet. Wenn man es schafft, das Bewusstsein dieser Gesellschaft dafür, dass es wichtig ist, zu erhalten.  

Man sieht noch die Schienen. Die alten Häuser, die drumherum waren, sind weg. Die hat man ins Meer stürzen lassen. Aber dieser Leuchtturm bleibt. Und man diskutiert jetzt schon darüber, ob man das in 30 Jahren wieder macht. Wenn man in der Gegend unterwegs ist, hört man oft: »Ja klar muss das sein. Der gehört dazu. Der ist ein Teil unserer Gegend und macht uns mit aus. Ohne den kann ich mir gar nicht vorstellen, dass wir hier sind.«

Diese Emotion zu schaffen, ist die zentrale Aufgabe, wenn es darum geht, wie wir Kulturinstitutionen in dieser Zeit erhalten. Dieser Leuchtturm zeigt, dass das geht. Dieser Leuchtturm erzählt nur eine alte Geschichte von 1899: »Wir haben hier dafür gesorgt, dass die Schiffe gut ums Eck kamen.« Er ist kein Theater, das jeden Tag eine neue Geschichte und ein neues Angebot zur Inspiration bietet, in einer Gesellschaft, in der wir alle nach einem Überblick suchen.  

Wir sind gar nicht so weit weg davon, dass das auch in unserer Gesellschaft gelingt. Ich will aus dem Kulturmonitor der Liz Mohn Stiftung zitieren, der Anfang des Jahres erschienen ist. In dem gibt es drei Absätze zu den Theatern: »Eine große Mehrheit der Befragten ist voll und ganz beziehungsweise eher der Meinung, dass Angebote in Theaterhäusern für kommende Generationen erhalten bleiben sollen.« Das sagen 91 Prozent. Dass sie Teil der kulturellen Identität Deutschlands sind, sagen 83 Prozent. Dass sie weiterhin mit öffentlichen Mitteln beziehungsweise Steuergeldern finanziert werden sollen, sagen 78 Prozent. 49 Prozent meinen, dass solche Angebote für ihre Familienmitglieder und Freunde wichtig sind. 43 Prozent haben Angebote in ihrer Kindheit und Jugend regelmäßig besucht. Für gut jeden dritten, 37 Prozent, sind Angebote in Theaterhäusern ein wichtiger Teil des eigenen Lebens. Dass sich solche Angebote nicht an Menschen wie sie richten, meint rund ein Drittel, 34 Prozent, der Befragten. Ein Viertel, 25 Prozent, fühlt sich in Theaterhäusern fehl am Platz. 17 Prozent meinen voll und ganz beziehungsweise eher, dass Tickets für Angebote und Theaterhäusern generell kostenlos sein sollen. 12 Prozent geben an, nicht zu wissen, wie sie sich in Theaterhäusern richtig verhalten sollen.  

91 Prozent geben an, dass Theater für künftige Generationen erhalten bleiben sollen. Das ist die Emotion, die wir brauchen, damit solche Entscheidungen, wie sie für diesen Leuchtturm getroffen wurden, auch künftig möglich sind, wenn es um Theater geht. Diese 91 Prozent müssen wir aber aktivieren. Es reicht nicht, dass diese 91 Prozent dann geäußert werden, wenn der nette Mensch von Forsa vorbeikommt und fragt: »Wie sehen Sie das denn so?«

Es geht darum, dass diese Emotion tatsächlich abrufbar und im Alltag immer wieder aktiviert wird. Sich darum zu bemühen, dass wir das in eine höhere gesellschaftliche und politische Verlässlichkeit bringen, ist auch eine verbandliche Aufgabe, vor der wir gemeinsam stehen und auch dazu gibt es in Workshops, die wir heute fortsetzen werden, mit durchaus interessanten Ideen: Wie komme ich denn auch zu gemeinsamen belastbaren Vereinbarungen, gegebenenfalls mit meinem Träger, der diesen 91 Prozent und ihrem Wunsch entsprechen möchte.

Es gibt auch Aussagen, dass es genauso wichtig ist, in Kulturinstitutionen zu investieren, wie in Brücken, ins Militär, in die Hochschulen oder in Schulen. Da gibt es keine Wertungsdifferenz bei den Bürgerinnen und Bürgern. Die sagen, das ist uns genauso wichtig. Wer die öffentliche Diskussion momentan wahrnimmt, die die Politik führt, kriegt davon nichts mit. Ich glaube auch an der Stelle müssen wir das deutlicher machen, dass auch das ein gesellschaftlicher Wunsch ist. Und diesem gesellschaftlichen Wunsch müssen wir einen Resonanzraum bieten.  

Damit es uns dabei hilft, weiter dafür sorgen zu können, dass auch in den nächsten 2.500 Jahren Geschichten davon erzählt werden können, wie es besser werden kann. Dass auch in den nächsten 2.500 Jahren Menschen über einen Kieselstein stolpern und anfangen, Räume mit Bildern, statt mit Waren zu füllen. Dass auch in den nächsten 2.500 Jahren etwas passiert, was Patti Smith, als sie neulich im Kennedy Center den Song »People have the Power« gesungen hat, mit der Zeile »We have to wrestle the earth from fools« – Wir müssen die Welt den Narren wieder abringen – kommentierte.  

Auch das können wir. Denn dass die Narren in einigen Regionen die Welt regieren, ist ehrlicherweise nicht hinnehmbar.

Erstens können Künstlerinnen und Künstler die viel bessere Narretei produzieren, wenn es denn mal notwendig ist. Dafür brauchen wir keine Politik. Das sollte die Kunst sich nicht nehmen lassen.

Zweitens: Weil es darum geht, dass wir diese Welt sinnhaft weiter gestalten. Deswegen ist es wichtig, dass die Freiheit der Kunst sich nicht darauf beschränken darf zu sagen: »Jaja, du bist völlig frei, du darfst machen, was du willst. Aber mach‘ das bitte da, wo es nicht wehtut.« Sondern die Kunst hat die Möglichkeit dahin zu gehen, wo es weh tut. Sie hat die Möglichkeit, uns mit Dingen zu konfrontieren, die wir nicht über uns wissen wollen. Uns mit Dingen zu konfrontieren, die wir erreichen könnten, wenn wir uns mehr anstrengen, als wir es momentan tun. Sie hat natürlich auch die Möglichkeit, uns einen guten Abend zu bieten und zu sagen: »Schalt mal zwei Stunden ab und denk mal überhaupt nicht an den ganzen Quatsch da draußen.«  

All diese Möglichkeiten und noch hunderte mehr haben die Künste, wenn sie sich auf ihren ästhetischen Eigensinn berufen – und nicht darauf, dass Sie irgendeinen gesellschaftlichen Auftrag zu erfüllen hat. Aber wenn sie sich auf diesen ästhetischen Eigensinn berufen, hat der irritierenderweise gesellschaftliche Auswirkungen, die Bürgerinnen und Bürger sehr wohl spüren. Deswegen sagen sie ja, dass es ihnen wichtig ist. Die spannende Aufgabe ist jetzt, hinzubekommen, dass diejenigen die sagen: »Das ist mir wichtig«, auch sagen: »Da gehe ich hin und dafür setze ich mich ein.«  

Diese Allianz in der Gesellschaft zu schaffen, ist auch eine Aufgabe, vor der wir momentan stehen, damit wir gut durch diese Zeit kommen. Ich halte das alles für gut möglich, weil ich mir sicher bin, dass wir die besseren Stories haben. Wir haben die besseren Argumente. Wir haben die besseren Erlebnisse. Wir können unmittelbar und eindringlich Vorstellungen davon schaffen, wie dieses Land viel cooler sein kann, als es momentan ist. Ich hoffe einfach, dass wir die Lust, die Leidenschaft und die Anstrengung auf uns nehmen, genau das in den kommenden Jahren und Jahrzehnten zu machen und dann eine andere Idee aus den Theatern hervorbringen. Um, wenn die Richtung von vorne kommt, sagen zu können, dann lass uns den nächsten Schritt in diese Richtung gehen.  

Ich hätte Lust darauf, das weiter mit Ihnen zu verfolgen und hoffe, dass Sie das einfach tun. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen heute wunderbare Beratung. Wir sehen uns hier heute Nachmittag zur Jahreshauptversammlung.  

Ich freue mich, dass so viele Menschen in diesem Raum daran arbeiten, dass dieses Land besser wird und dass die Theater frei bleiben.  

In diesem Sinne: Gute Beratungen in der Jahreshauptversammlung.

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